Annette Lory, Leiterin der «Herberge für geflüchtete Frauen und Kinder»
Das auf drei Jahre befristete Projekt «Herberge für geflüchtete Frauen und Kinder» ist im Januar 2020 mit einer Bewohnerin gestartet. Mittlerweile leben neun Frauen und drei Kinder in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Krankenstation in Wiedikon.

Im grossen Wohnzimmer im 5. Stock ist heute Morgen noch nicht viel Betrieb. Einzig Lara, die 13-jährige Tochter von Isabelle, brütet bereits über ihren Haushausaufgaben. Und Sonbul, der Herbergskater, wartet darauf, dass er endlich gebührend wahrgenommen wird. Noch gibt das Corona-Virus den Takt vor: Sämtliche Deutschkurse vom Solinetz sind abgesagt und auch die Wohnungssuche der Frauen ist auf Eis gelegt.
Das unbestrittene Highlight der Woche aber ist, aber auch in diesen Zeiten, der Besuch der «Schweizer Tafeln», deren Bus jeden Montag vor der Herberge haltmacht. Wer zufälligerweise genau dann vorbeispaziert, könnte glauben, versehentlich auf einem orientalischen Markt gelandet zu sein. Eine Gruppe von Frauen steht auf dem Gehsteig und wählt Gemüse, Früchte oder andere Lebensmittel aus. Eine Frau fragt sich, ob das Fleisch, das angeboten wird, wirklich noch geniessbar ist. Eine andere möchte wissen, wie Mangold am besten zubereitet wird.
In der Corona-Krise ist das Kochen und Backen zu einem beliebten Zeitvertrieb geworden, die Frauen überbieten sich gegenseitig mit leckeren, selbst gebackenen Kuchen und köstlichen Speisen aus ihren Herkunftsländern.
Aus dem Wohnzimmer sind Stimmen und Lachen zu hören. Wenn einer Frau die Betriebsamkeit mal zu viel wird, kann sie sich ins eigene Zimmer zurückzuziehen, um zu lesen, Musik zu hören oder sich in Ruhe unter vier Augen zu unterhalten.
Aber auch die regelmässigen Gespräche mit der Leiterin der Herberge und die WG-Sitzungen, sind wichtige Fixpunkte im Alltag der Frauen. Einer Frau mit drei Kindern ist es (trotz Corona-Krise) gelungen, eine eigene Wohnung zu finden, was den anderen Frauen Hoffnung gibt, bald auch ein festes Zuhause zu haben.
Orientalische Frauen können sehr anfordernd sein, eine Folge der frühen Verheiratung, ob vollzogen oder bloss angedroht. Die Reformierte Kirche übernimmt hier die Rolle des Patriarchates. Bei den katholischen Geistlichen schmückten oft Kinderbilder aus Entwicklungshilfe-Kalender die Wände – in Ermangelung eigener. Und die Klöster erhalten einen Novizen-Pool – auch in eigener Ermangelung. Die Kirchen wollen ausgreifen, wenn schon nicht angreifen und behüten, auch ein bisschen übergriffig, dieses Sehnen nach Exotik ruft nach aussen, das ist im Stauffacher normal.