Das Virus und der liebe Gott

Von Pfarrer Jürg Baumgartner

Pfarrer Jürg Baumgartner.

Auf den ersten Blick haben die beiden wenig gemeinsam. Weil: das Virus ist nicht lieb, sondern richtig bösartig, und die Vorstellungen über Gottes Wesen und Gestalt mögen zwar vielfältig und von unterschiedlichster Prägung sein, aber ein Virus ist Gott doch ganz bestimmt nicht, oder?

Allerdings kommt mir bei dieser – eigentlich mehr rhetorisch gemeinten – Frage sofort ein Ausspruch von einer bekannten Persönlichkeit aus der Vergangenheit in den Sinn: der russische Religionsphilosoph Nikolai Berdjajew (1874-1948) soll einst mit Bedauern festgestellt haben, dass die Menschen, alle Menschen «unheilbar religiös» seien.

Im Licht der Aufklärung und der Philosophie des Materialismus wird Religiosität, also der Glaube an ein übernatürliches Wesen (oder auch mehrere) als eine unheilbare Krankheit beschrieben, und demzufolge wäre dann der Vergleich mit dem Virus als Gestalt oder Ausdrucksform Gottes schon etwas weniger abwegig.

Noch weniger abwegig wird dieser Gedanke, wenn wir uns heute umschauen, was dieses neue Corona-Virus alles «schafft» und bewirkt: Es ist buchstäblich in aller Munde, es beherrscht die Schlagzeilen aller Zeitungen und Magazine, die News- und Diskussionssendungen aller TV-Stationen, und auch die neuen sozialen Medien sind «durchseucht» davon.

Es sorgt – durch seine Omnipräsenz und seine rasante Ausbreitung – dafür, dass in unzähligen Ländern Regierungen Massnahmen ergreifen und Regeln aufstellen, die die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ganz massiv einschränken. Ohne dass es deshalb zu Aufständen und Revolutionen kommen würde! Das ist doch recht erstaunlich! Nebenbei werden dank der Massnahmen gegen das Virus auch noch die Luft und das Wasser entlastet.

Da muss doch – könnten wir denken – sozusagen eine höhere Macht im Spiel sein, ein unverfügbares, allerdings höchst bedrohliches Etwas, dass uns geradezu dazu zwingt, auch einschneidende Vorschriften und Einschränkungen getreulich zu befolgen. Also, lieb ist dieses Etwas in keinem Fall, aber von der «Potenz» und von der Unverfügbarkeit her nicht allzuweit von etwas Göttlichem oder Gottähnlichem entfernt. Von seiner Qualität der Lebensminderung und Lebensbedrohung her könnten wir leicht auch an eine dämonische Macht denken…

Nach meinem Dafürhalten findet in unserer Gesellschaft, in Wissenschaft und Politik zurzeit tatsächlich ein solcher Prozess der Dämonisierung statt. Ein bereits seit etlichen Jahren bekannter Krankheitserreger, das Corona-Virus, das in einen neuen Stamm, das Sars-Co-II-Virus mutiert hat, wird in seiner Bedeutung und seiner Mächtigkeit von Experten und Spezialisten in einer Weise «überhöht» und mit Zerstörungspotential ausgestattet, die dem an sich banalen Grippevirus in keiner Weise «gerecht» wird. Die hohe Gefährdung für ältere Menschen mit entsprechenden Vorerkrankungen halte ich zwar auch für unbestritten, ebenso die leichte Übertragbarkeit des Virus und seine dadurch bedingte, kaum einzudämmende Ausbreitung. Diese hat das Virus aber mit vielen anderen Grippeviren gemeinsam.

Zu Grunde liegt diesem Prozess der Dämonisierung nach meiner Wahrnehmung aber eine tief in uns Menschen angelegte Angst vor dem Sterben und dem Tod. Und diese Angst ist in den vergangenen knapp drei Monaten in einer Weise genährt, befeuert und beschworen worden, dass wir alle mehr und mehr unseres Verstandes und vielleicht auch unseres Glaubens beraubt werden. Dabei könnte uns gerade in Bezug auf unsere Angst der Glaube eine grosse Hilfe sein und werden.

Denn Christus spricht: «In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!» Dieser christliche Glaube, das Vertrauen in den Christus Gottes, den Jesus von Nazareth, der die Macht von Sterben und Tod relativiert und dieser Macht seine uneingeschränkte Hingabe, seine liebende und aufrichtende Zuwendung zu den Menschen entgegenstellt, ist mir in diesen Tagen und Wochen eine grosse Kraft. Eine Kraft, die auch dann noch wirkt, wenn unsere Liebsten von uns getrennt sind, wenn Besuchsverbote und Distanzierungsregeln unseren Alltag dominieren. Mich täglich mit dieser Kraft zu verbinden, im bewussten Ein- und Ausatmen, in der Stille im Licht einer Kerze, im Gebet und im Lied, das ist mein Weg des Glaubens durch diese verrückten Tage, um nicht selbst verrückt zu werden. Um mich selbst nicht verrückt machen zu lassen. «In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost! Ich habe die Welt überwunden!» 

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